Presse-Meldung vom 21.11.2015

Verfasser Presseorgan Rubrik
Anja Raschke Volksstimme Worte aus der Kirche

Lebendig begraben?

Es ist Montag, der 14. September, mein erster Tag von drei Monaten, die ich hier in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber arbeiten darf. Viel Ungewohntes stürmt auf mich ein. Ich sehe Menschen, die in langen Schlangen warten, um registriert und aufgenommen zu werden. Mütter halten ihre erschöpften Kinder in den Armen und sind selbst ganz kraftlos. Das, was sie zurücklassen mussten und die Strapazen der Reise ergie�en sich hier und da in Tränen. Diese Eindrücke machen mir einmal mehr bewusst, dass auch ich in dieser Schlange stehen könnte, denn ich hatte keinerlei Einfluss darauf, wo ich geboren wurde.

Es ist Samstag, der 14. November. Ich schalte morgens die Nachrichten an und sehe die schockierenden Bilder der Anschläge in Paris. Viele Menschen wurden dabei getötet und brutal aus dem Leben ihrer Familien gerissen. Viele andere wurden schwer verletzt und werden das Erlebte ihr Leben lang nicht vergessen. Auch da wird mir bewusst, ich kann es nicht ausschlie�en, in solch eine Situation zu geraten.

Ich verstehe Menschen, die �ngste haben. �ngste vor dem Fremden, vor Veränderung und dem Unkalkulierbaren. Aber ich sehe auch die Gefahr, dass diese �ngste in ungute Kanäle laufen. Was bringt es, sich abzuschotten, abzugrenzen und einzuschlie�en? Ein Grab zu Lebzeiten, ist das das Ziel? Soll das �ngste nehmen?

Nein, ich möchte befreit leben. Und dabei mache ich mir bewusst, was wirklich zählt, die Liebe Gottes zu uns Menschen. In der Bibel im Römerbrief, Kapitel 8, Verse 38 und 39 steht darüber:
"Ich bin überzeugt: Nichts kann uns von seiner Liebe trennen. Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder unsere �ngste in der Gegenwart noch unsere Sorgen um die Zukunft, ja nicht einmal die Mächte der Hölle können uns von der Liebe Gottes trennen. Und wären wir hoch über dem Himmel oder befänden uns in den tiefsten Tiefen des Ozeans, nichts und niemand in der ganzen Schöpfung kann uns von der Liebe Gottes trennen, die in Christus Jesus, unserem Herrn, erschienen ist."

Das kann mir keiner nehmen. Voller Zuversicht erlebe ich die Gegenwart und schaue in die Zukunft. Dabei freue ich mich, dass ich in einem Land leben darf, das sich der Not anderer annimmt und nicht in blinder Angst und gleichgültiger Ignoranz erbarmungslos die Tür verschlie�t. Ich empfinde es als Privileg, unter einer Regierung zu leben, die menschlich handelt. Und ich freue mich über die vielen Mitarbeiter, die sich so stark im Asylheim engagieren, um die Menschen dort aufzunehmen, zu versorgen und für sie da zu sein. Nicht selten opfern sie ihr Privatleben, um sich der Herausforderung zu stellen und die Not zu lindern. Gott segne ihren Einsatz und möge es ihnen mehrfach zurückgeben durch die Liebe, die Freiheit in Jesus Christus schenkt.